Unterschiedliche Ansichten und ihre Begründungen

 

Eine Neutestamentlerin und ein Altphilologe (Gräzist und Latinist)  kommen zu Wort.

 

Eva-Maria Becker:

 

„…  Auf der Basis erzähltheoretischer und textlinguistischer Analyse lassen sich also beide Evangelien dem Bereich der geschichtsschreibenden Literatur zurechnen. Und Lukas ist – im Vergleich zu Markus – nicht der ‚historisch’, sondern der ‚literarisch bessere’ Schriftsteller. Dies Ergebnis synchroner Textbetrachtung entspricht sogar den antiken literaturästethischen Vorstellungen von gelungener Geschichtsschreibung, wie gerade die Lektüre der historiographischen theoretischen Schriften Lukians freilich  sub contrario  zeigt.“  …  (S. 123/124)

b) ‚Historischer Anfang’: Historische Situation

Historiographische Werke entstehen im Kontext spezifischer historischer Situationen. Die Ereignisse des jüdisch-römischen Krieges und die Tempelzerstörung lassen sich als historischer ‚Auslöser’ für die Abfassung der frühesten Evangelien-Schrift verstehen. 53  Dazu treten weitere historische  Faktoren (Aussterben der Zeugengeneration etc.), die die schriftliche Fixierung der Jesus-Überlieferung mit veranlasst und bedingt haben.  …“  (S. 126)

 

 

Der Altphilologe (Gräzist und Latinist) Ulrich Victor meint:

 

… Die Evangelien entstanden, weil die Augenzeugen, die man hören wollte, nicht überall sein konnten. Sie entstanden also sehr früh.

Dieser ohnehin nahe liegende Schluss wird durch frühkirchliche Zeugnisse bestätigt, außerdem durch die Tatsache, dass in keiner der ntl. Schriften das am stärksten einschneidende Datum der damaligen Judenheit, deren kleiner Teil dann die erste Christenheit wurde, erwähnt ist: die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Es gibt nicht einmal einen Beweis irgendwelcher Art, dass die Evangelien später als um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. geschrieben wurden.  …  „  (S. 16)

Zur sogenannten  „Spätdatierung“  der neutestamentlichen Schriften meint Ulrich Victor:

„Die Spätdatierung der Schriften des  NT  ist eine bloße Hypothese. Hypothesen spielen in den historischen Wissenschaften eine Rolle, die der von Versuchen in den Naturwissenschaften vergleichbar ist. Man untersucht immer von neuem, ob sie tragfähig sind. Stellt es sich heraus, dass sie es nicht sind, werden sie durch eine neue Hypothese ersetzt, und man beginnt von vorn.  Das wichtigste Kennzeichen einer Hypothese ist ihre Vorläufigkeit.

Die ntl. Wissenschaft hat die Hypothese der Spätdatierung der Evangelien, der Apostelgeschichte, der Offenbarung und der Mehrzahl der Briefe jedoch längst dieser Vorläufigkeit entkleidet und aus ihr einen Artikel ihres Glaubensbekenntnisses gemacht. …“  (S. 17/18)

 

BECKER, Eva-Maria:  Das Markusevangelium im Rahmen antiker Historiographie  (Mohr Siebeck,  2006,  S. 123/4;  126)

VICTOR, Ulrich:  Die Evangelien entstanden   (Die wichtigsten Hintergründe und Hilfsmittel zum Verständnis der neutestamentlichen Schriften. Einleitung. –  in: VICTOR / THIEDE / STINGELIN:  Antike Kultur und Neues Testament.  – Basel und Gießen:  Brunnen Verlag  2003  S. 16. 17/18)

 

 

 

 

70 n. Ch.r – ein „instabiles“ Datierungs-Datum

 

Wie  „stabil“  die Behauptung dieses Datums  70 n. Chr.  ist  –  die Zerstörung des Tempels und von Teilen der Stadt Jerusalem durch die römischen Truppen unter Titus  –  zeigen die folgenden Beispiele (eine sehr unvollständige Zusammenstellung).

 

1983:

  • Martin Hengel:  die Schilderung der Zeitsituation, der verschiedenen jüdischen Gruppen und des Jünger-Kreises im Mk-Ev  sei so, wie die tatsächliche Situation in den 40er, 50er-Jahren, ja wie zur Zeit  Jesu  war   (nicht wie um oder nach 70).

ABER:  das sei Rückblende, vom Jahr  69 n. Chr. aus   (MARKUS-Philologie,  S. 16. 43)

  • Rudolf Pesch postuliert (vom Jahr 70 ausgehend) eine„vormarkinische“  Passionserzählung. Mit ihr komme man  bis  10 Jahre an das Geschehen heran.

ABER:  M. Hengel  (MARKUS-Philologie, S. 19):

„Wahrscheinlich kann man auch die Existenz einer älteren Passionsgeschichte voraussetzen, die Markus freilich in erzählerisch genialer Weise in sein Gesamtwerk eingeschmolzen hat. Ihre literarkritische Rekonstruktion ist nicht mehr möglich.“

 

1992:

  • Mk 13, 14  und Teile von  13:  ein  „apokalyptisches Flugblatt aus der Zeit um 40“, dem Höhepunkt der sogen. Caligula-Krise  (G. Theißen)

ABER:  später – um 70 – von Markus adaptiert und in das Evangelium eingearbeitet  (z. B.  G. Theißen)

 

2006:

  • Mk  13, 2:   „kein Stein wird auf dem anderen bleiben“.  Das sei genau so eingetroffen, deshalb kurz nach 70  (M. Ebner)