Markus ist kein „Geheimniskrämer“, er erzählt, wie alles war und ist – alethôs – wahrhaftig (12, 14), wie es eine EigenArt Jesu ist. Er lebt nicht „zwei Welten“:
- eine öffentlich gezeigte, gesellschaftlich erwünschte und honorierte und
- eine „eigentliche“, „interne“ – verborgen, geheim, abgedichtet von „außen“, nur „Eingeweihten“ zugänglich.
Alle Geheimnisse liegen in völliger Offenheit vor uns.
Nur wir stufen uns gegen sie ab.
Vom Stein bis zum Seher.
Es gibt kein „Geheimnis-an-sich“,
es gibt nur Uneingeweihte aller Grade.
Christian Morgenstern
Er schreibt sein „Evangelium Jesu Christi“ im Stil eines „Alltags-Griechisch“ mit Elementen der Hochsprache, nicht in einem (ab)gehobenen „Literatur-Griechisch“ (wie es für Werke mit literarischem Anspruch ‚nötig’ und üblich war).
Diese Verwendung der „gewöhnlichen“ Sprache des Volkes fällt ebenso aus den Bildungs-Normen wie „Volk“ und „Alltag der Leute“ als Themen anspruchsvoller Literatur und Geschichtsschreibung. Sie entspricht aber der Art, dem Stil Jesu. Und hatte gravierende Folgewirkungen.
Langzeitwirkung – aktuell
- Franziskus von Assisi (1182 – 1226) betet, singt n i c h t in Latein, der Sprache des (höheren) Klerus und der Gebildeten, er will vom sogenannten „einfachen Volk“ verstanden werden. Sein „Sonnengesang“ gilt als Beginn einer eigenständigen italienischen Sprache und Literatur.
- Teresa von Avila (1515 – 1582) beschreibt im „Buch meines Lebens“ (1565) und ihren weiteren Schriften ihre spirituellen Erfahrungen. Sie will ihre Mitschwestern ermutigen, und verteidigt sich gegenüber der Inquisition. Sie schreibt n i c h t in der Gelehrtensprache Latein, sondern in der Sprache des Volkes, spanisch, die sie damit kultiviert, ja miterschafft, wie Franziskus das Italienische. (1559 hatte die Inquisition alle geistliche Literatur in spanischer Sprache verboten.)
- Martin Luther (1483 – 1546) schaut dem V o l k auf den Mund, n i c h t dem Adel, dem Klerus, den Gebildeten (die reden und schreiben Latein). Mit seinen (Kirchen)Liedern, Predigten und vor allem mit seiner Übersetzung des Alten und Neuen Testamentes legt er Grundlagen für das Neuhochdeutsche.
TERESA von Avila: Herr der Töpfe und Pfannen (Materialdienst der Erzdiözese Salzburg, Nr. 72)
TERESA von Avila: Nada te turbe – Nichts soll dich verwirren [Übers.: Erika Lorenz] („Ich bin ein Weib und obendrein kein gutes“. Ein Porträt der Heiligen in ihren Texten. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Erika Lorenz. – Freiburg: Herder 4. Aufl. 1985, S. 130/131; He TB Bd. 920, Reihe „Texte zum Nachdenken“, hrsg. von Gertrude und Thomas Sartory)
FUCHS, Gotthard / Bernhard KALBHENN: [Teresa von Avila – nach 450 Jahren aktuell?] (Gespräch: Die Welt ist kein Betriebsunfall. Hinreißend schön und schrecklich schwer. Die Sehnsucht, heil zu sein. Anmerkungen zum Mystik-Boom. – in: Publik Forum Nr. 9/2006, S. 54 – 57)
Die erste öffentliche persönliche spirituelle Literatur
Markus – wie die anderen Evangelisten auch – schreibt keine „Geheimsprache“, nur „Auserwählten“ verständlich, einen „Insider-Dialekt“. Er gestaltet eine öffentliche Geheimnis-Sprache: er sagt schon im ersten Satz, worum es ihm geht ( 1, 1 ). Und er entfaltet dies auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlichsten Weisen, die die Lesenden sich erschließen können.
Zu seiner Suche nach einer neuen Sprache für die neuen, unerhörten – kainós Erfahrungen Jesu und mit/durch Ihn gehören WEGE und WANDLUNGEN, die jede, jeder s e l b e r geht und (er)lebt. Er gibt sein Evangelium Jesus Christi nicht „instant – sofort löslich“ oder „auf Knopfdruck“. Seine Worte sind zum ‚Ergehen’ und ‚Anverwandeln’, selber und im Miteinander – öffentliche spirituelle Literatur, allen zugänglich, lebbar.
Vielleicht beziehen die Dinge um uns ihre Unbeweglichkeit
nur aus unserer Gewissheit, dass sie es sind und keine anderen,
aus der Starrheit des Denkens, mit der wir ihnen begegnen.
Marcel Proust (1953)
Dynamik vieldimensionaler Wort-Netzwerke
Markus komponiert das JETZT + HIER Jesu nicht als „Punkt“ in Raum- und Zeit-Dimension, sondern als mehrdimensionale Präsenz, als „vielstimmige Gleichzeitigkeit“. Er legt den ‚Wirklichkeits-Überschuss’ spiritueller Erfahrungen in die Tiefe der Worte-Netzwerke, die er gestaltet.
Diese öffnet sich allen, die seine Worte an der Oberfläche des Textes wie einen „Touchscreen“ verwenden. Und sich immer tiefer in das Geheimnis in und zwischen seinen Worten wagen. Eine Zumutung für Weltbilder, die auf die Oberfläche reduziert sind, für rationalistische, patriarchale, … Bewusstseins-(Vor)Strukturierungen. Vor allem für deren ‚Alleinvertretungs-Ansprüche’.
Zum Vergleich: In der liturgischen Gebetssprache, in der mystischen Sprache der Liturgie wird als Abschluss des Hochgebetes (in der lateinischen Fassung) feierlich gebetet:
- per ipsum et – durch Ihn selbst/in eigener Person und
- cum ipso et – mit Ihm selbst/in eigener Person und
- in ipso … – in Ihm selbst/in eigener Person …
= Jesus Christus ist selbst/in eigener Person präsent.
Es heißt n i c h t – wie die deutsche Übersetzung nahelegt:
- per eum et – durch ihn und
- cum eo et – mit ihm und
- in eo … – in ihm …
Eigentlich kann man nicht sagen, es gibt drei Zeiten,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
genau würde man vielleicht sagen müssen:
Es gibt drei Zeiten,
eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart,
eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und
eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft.
Augustinus
ZENETTI, Lothar: Die neue Hoffnung (Auf Seiner Spur. Texte gläubiger Zuversicht. – Mainz: Matthias Grünewald Verlag 2000, S.119; =Topos Nr. 327)